top of page
Suche

Basale Stimulation® in Санкт-Петербург (St. Petersburg)

St. Petersburg, das frühere Leningrad, ist die nördlichste Millionenstadt der Welt und mit 5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Russlands, sowie die Viertgrößte Europas. Zum Stadtgebiet und seinen Außenbezirken gehört auch Pawlovsk, ein Vorort der manchem Besucher aufgrund seines klassizistischen Sommerschlosses des russischen Zaren mit idyllischem Landschaftsgarten bekannt sein dürfte.

Die Wenigsten aber kennen das staatliche Kinderheim Nr. 4, nah an den romantischen Parkanlagen gelegen und doch weit ab von der Zivilisation. Über Feldwege gelangt man zu dieser eingezäunten Anlage über Kontrollposten.

600 Kinder mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen, viele mit komplexen mehrfachen Behinderungen, sind hier untergebracht.

Die meisten Kinder verbringen hier ihre gesamte Kindheit und Jugend, häufig ohne Kontakt zu den Eltern oder Angehörigen. Oft werden sie mit einem Krankenwagen aus einer Notsituation heraus nach Pawlovsk gebracht und man weiß wenig bis nichts über ihre Herkunft und Vergangenheit.

Während unserer Praxisbegleitung nach dem Seminar führte uns die hohe Bedürftigkeit eines Kindes und ihrer Begleiterin in den sogenannten „Adaptionssaal“, ein Schlafsaal für die Neuankömmlinge mit etwa 12 Kindern, die die ersten 6 Wochen nach ihrer Ankunft dort vorwiegend liegend verbringen.

Die „Schwächsten“ unter ihnen leben in Korpus 4. Für sie sieht das russische Sozialsystem nur eine minimale Versorgung vor. Mangelhafte Ernährung, ausbleibende Förderung und fehlende Zuwendung führen zu Vereinsamung der Kinder und Unterentwicklung in allen körperlichen und geistigen Bereichen.

Der deutsche Verein Perspektiven - Gemeinschaft zur Unterstützung von Projekten für sozial Benachteilgte in Osteuropa e.V., www.perspektiven-verein.de, und dessen russische Dependence Perspektivy, www.perspektivy.ru, engagieren sich seit 1996 in diesem Heim. Zunächst stand die materielle Ausstattung im Vordergrund, Renovierungen, Sanierung von Bädern, Anschaffung von Rollstühlen und sonstigen Hilfsmitteln.

Wie wir sehen konnten, ist Farbe in die tristen, gekachelten, sterilen Räumlichkeiten eingezogen, Spielzeuge erfreuen die Kinderherzen und Pflanzen sprechen ebenso das Bedürfnis nach Ästhetik an, wie Bilder an den Wänden.

Ein Schwerpunkt der wertvollen Arbeit von Perspektivy ist die Aus- und Weiterbildung des Personals in Pawlovsk. Als Kursleiter Basale Stimulation® in Pädagogik und Therapie waren Eva-Maria Sonneborn und Thorsten Tönjes im Oktober in das Haus Nr. 4 eingeladen, um dem vorwiegend pädagogischen und therapeutischen Personal einen Grundkurs anzubieten. Die Einladung nahmen wir dankend an und der Kurs mit anschließender Praxisbegleitung fand ehrenamtlich statt, da es uns ein Anliegen war, diese wichtige Arbeit im Kinderheim Pawlovsk zu unterstützen.

Soviel vorweg: Die 24 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gestalteten mit uns zusammen ein ausgesprochen intensives und engagiertes Seminar, das sich stets an der Praxis, an den besonderen Bedürfnissen der Kinder in Pawlovsk orientierte und dabei die Möglichkeiten vor Ort berücksichtigte.

Das Seminar begann nonverbal und dabei einerseits emotional berührend und andererseits mit körperlicher Berührung. Schon während der ersten Minuten wurden elementare Gedanken aus dem Konzept Basale Stimulation® für alle Anwesenden deutlich und spürbar: Unmittelbar auf den Körper bezogene Angebote machen, mit der großflächigen Hand (auch der Daumen!; Halten, nicht festhalten!), in Kontakt bleiben und auf Augenhöhe kommunizieren.

Wir setzten uns mit biografischen Elementen und der Biografie von Menschen mit schweren Behinderungen auseinander und lernten einander kennen, was für den weiteren Verlauf des Seminars auch unter den Kursteilnehmern als bedeutungsvoller Aspekt in der Begegnung zu betrachten war. Die biografische Frage nach der Herkunft der Teilnehmer öffnete uns Kursleitern ganz neue Horizonte: Da waren Menschen 4000 Km entfernt geboren und noch immer in Russland!

Mit großem Interesse wurde auch die folgende theoretische Einführung in das Konzept verfolgt, wie „Personenkreis“, „Entstehung des Konzepts“ und „Für die Arbeit mit dem Konzept relevante Grundkenntnisse“.

Manche Teilnehmer hatten schon etwas von basaler Stimulation gehört, manche hatten sogar versucht, ihr (vermeintliches) Wissen intern weiterzugeben und hofften nun auf fundierte Kenntnisse von den Profis aus Deutschland. Anderen war das Thema ganz neu und unbekannt. Fast alle hatten aber schon einmal von ihm gehört: Prof. Dr. Andreas Fröhlich, der uns dieses wunderbare Konzept an die Hand gegeben hat. Manche Zitate von Andreas Fröhlich stellten wir vor, seine Fachliteratur ist leider noch nicht auf Russisch erhältlich. Die Teilnehmer schrieben eifrig mit und sogen jedes Wort auf, wie ein trockener Schwamm. Mein umfangreiches Script, das sich an meiner Ausbildung und der Literatur von Andreas Fröhlich orientiert, wird derzeit ins Russische übersetzt und dürfte geeignet sein, auch im Nachhinein Antworten auf so manche Frage zu finden.

Unsere Dolmetscherin, Anna Tschernawskaja, begleitete uns dabei ganz fantastisch und sorgte für eine reibungslose Kompensation der sprachlichen Barriere.

Bereits am ersten Kurstag stiegen wir ein in die somatischen Dialoge nach Andreas Fröhlich, die sich am zweiten Tag intensiv und mit Selbsterfahrungen fortsetzten. Impulse aus unserer Praxis vermischten sich mit Fragen aus der Praxis der Teilnehmer, und so erlebten wir ein Ringen um die Inhalte des Konzepts, die sich im weiteren Verlauf dieses Basisseminars immer mehr vervollständigten und zu einem ganzheitlichen Bild beitrugen.

„Schwindende Wahrnehmung, hilflos und ausgeliefert sein in einem störenden Umfeld“ – dies selbst zu erfahren konnte an die Grenze gehen.

„Besser und schlechter gelingende Kommunikation im tonischen Dialog“ – und es wurde im Einklang getanzt!

„Bewusstsein für den Körper schaffen, sich auf Augenhöhe begegnen und im somatischen Dialog kommunizieren“ – eine intensive Erfahrung mit vielen Ideen zum Praxistransfer.

„Blindenführung“ – draußen im farbenprächtig-herbstlichen Gelände haben wir auch mal herzlich gelacht, aber dennoch sinnliche Erfahrungen gemacht.

Auf diese Weise wurden vielfältige Aspekte am eigenen Leib erfahren und jeweils im Plenum reflektiert.

Die vibratorischen und vestibulären Dialoge haben die Grundkursinhalte wieder mit theoretischen Inputs und Selbsterfahrungen abgerundet. Hineinlauschen in die Tiefe des eigenen Körpers und Informationen über den Zusammenhalt dessen, dabei Aktivierung oder auch tiefe Entspannung erfahren bei vibratorischen Angeboten. Bei vestibulärer Erfahrung sich im Raum orientieren können und sich in Auseinandersetzung mit der Schwerkraft erleben, sowie zur Vorbereitung bei Transfers in Pflegesituationen über Mikrobewegungen.

Wie auch im somatischen Dialog waren die begleiteten Bewegungsangebote immer wieder Thema, denn nur wenn wir uns leibhaftig bewegen, bewegt sich etwas im Leben und Bewegung heißt Fortschritt, heißt, Entwicklungsimpulse können angeregt werden. Entwickeln muss der Klient in seiner jeweiligen Lebenssituation sich immer selbst, doch wir können z.B. über diese basalen Angebote die entsprechenden Impulse dazu liefern und ein Milieu gestalten, das eine förderliche Entwicklung unter Berücksichtigung der „Lebensthemen“ ermöglicht.

Ein Seminar ist immer nur so lehrreich, wie die Beteiligung der Teilnehmer es zulässt. In St. Petersburg war der Lernerfolg enorm. Die Auseinandersetzung mit dem Konzept Basale Stimulation® war durchweg intensiv, konzentriert und ernsthaft. Zugleich war die Atmosphäre vertrauensvoll, entspannt und humorvoll. Die Kinder mit schweren Behinderungen standen dabei stets im Mittelpunkt aller Überlegungen und eins ist sicher: Durch die Umsetzung des Konzepts Basale Stimulation® im Kinderheim Pawlovsk, die sich an der Haltung des Personals, wie auch an der Kompetenz und der Anwendung verschiedener Techniken zeigen wird, werden die Kinder eine neue Qualität erfahren – Lebensqualität!

Den meisten Teilnehmern konnten wir mit Freuden das Zertifikat für einen Grundkurs Basale Stimulation® aushändigen, die Abschlussrunde war für uns alle emotional und nahe den Tränen. Wir sollen möglichst bald wiederkommen. Das tun wir doch nur zu gern!

Herzlichen Dank für die engagierte Zusammenarbeit und viel Freude in der basalen Arbeit wünschen wir euch – Kolleginnen und Kollegen in St. Petersburg!

Thorsten Tönjes

Kursleiter Basale Stimulation® in Pädagogik und Therapie

Heilerziehungspfleger und Klangtherapeut


8 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page